Ist meine (Schmerz?)Grenze real?

girl walking along the road in a field alone
von Jasmin Nerici

Ist meine (Schmerz?)Grenze real?

Vor Kurzem hatte ich ein interessantes Gespräch über das Thema Geburt und körperliche Grenzen. Natürlich kam dabei auch der Geburtsschmerz ins Spiel. Konkret war bei diesem Gespräch das Thema, dass die Frau bei ihrer vorangegangenen Geburtserfahrung meinte, ihre körperlichen Grenzen genau gespürt zu haben, diese wurden aber von den Wehen einfach überrollt. Das fand sie fürchterlich! Ich fragte: War diese Grenze tatsächlich real oder nur in deinem Kopf so festgelegt? Denn Fakt ist: Wenn dein Körper tatsächlich über seine (Belastungs-) Grenze geht, gibt es Verletzungen und im schlimmsten Fall einen Totalausfall. Manche Sportler behaupten sogar, manche Verletzungen wäre nur  eine Grenzerweiterung…

Ja, wir glauben manchmal, DAS ist unsere Grenze und es ist da Schluss. Erlebnisse wie die Geburt zeigen uns aber, dass wir falsch liegen mit dieser Einschätzung. Kein Wunder – wir machen in unserer zivilisierten Gesellschaft doch kaum noch Grenzerfahrungen. Viele suchen sie sich selbst, im Sport oder anderen Erlebnissen. Nur bei der Geburt denken wir nicht daran.Hattest du bei der vorangegangenen Geburt auch den Eindruck, die Empfindungen (Wehen, Muskelkraft, Öffnung,…) gingen weit über deine Grenze hinaus? Dann lass dir gesagt sein: Das war einfach nicht deine wirkliche Grenze! Dein Körper ist VIEL stärker gewesen als du dachtest. Das war die Lektion, die es zu lernen gab. Und das macht jetzt für die folgende Geburt schon einen sehr großen Unterschied, wie du spätestens danach feststellen wirst.

Wenn du schon in der Schwangerschaft Lust drauf hast, kannst du das Grenzen-Weiten auch schon  ein wenig üben. Das geht zum Beispiel so:

  • Nimm dir jeden Tag ca. 10 Minuten – 20 Minuten Zeit (das ist das Schwierigste an der Übung hahahaha)
  • Stell dir eine Stoppuhr mit 12 Minuten.
  • Jetzt schließe die Augen, oder fokussiere dich auf einen Anker (z.B. ein Bild, eine Kerze, das immer gleich ist).
  • Wenn deine Atmung ganz ruhig ist, stell dir folgende Situation vor:

Du bist auf dem Weg, eine Schüssel hochheiliges Wasser in einen Tempel zu tragen.
Der Weg ist steinig und kurvig, du gehst barfuß.
Du darfst keinen Tropfen vergeuden und die Schüssel darf den Boden NIE berühren. Sie muss in den Tempel auf den Altar gestellt werden.
Die Schüssel sollte immer auf Höhe des Herzens getragen werden, mit beiden Händen. Der Eingang in den Tempel ist eine Linie (stell dir eine Farbe vor die du magst). Dies ist die Grenze. Du hältst vor der Grenze an und gehst im Gedanken ganz bewusst drüber.

In der ersten Woche (ca. 5 – 7 x) geht es nur darum, dass du im Gedanken diese Schüssel für 10 Minuten trägst und im Tempel abstellst. Nicht schummeln und vor  Ablauf der Stoppuhr abstellen.
Ab der zweiten Woche oder wenn du dich sicherer fühlst schon vorher, hältst du dir deine Schüssel nicht nur im Gedanken: Du hältst die Hände tatsächlich 10 Minuten vor der Brust.
Sobald du dich sicher damit fühlst, versuche mit deiner “Schüssel” während der 10 Minuten tatsächlich im Zimmer „zu deinem Tempel“ zu gehen.

Wie machst du das nun bei der Geburt? Wenn du während der Geburt in die Situation kommst, dass du den Eindruck hast, “So, meine Grenze ist erreicht!” kannst du 2 Dinge tun:

1. Du machst dir bewusst, dass dies nun eine Grenze ist. Und gehst BEWUSST darüber. Das geht am einfachsten mit Affirmationen, also indem du es dir vorsagst, zum Beispiel: „Ich überwinde jetzt meine Grenze. Ich bin unendlich. Ich kann meine Grenze ausdehnen.“ Du kannst dir dabei auch das Bild vom Tempel mit der Grenzlinie herholen und im Gedanken wieder bewusst drüber gehen. Es ist sehr hilfreich, wenn du jemanden dabei hast, der dir das sagt, sobald du ins Zweifeln kommst.

2. Du erkennst deine Grenze und die Geburtskraft (!) überwindet sie für dich. Das mögen manche Frauen, sie lassen dann total los und geben sich hin. Sie lassen die Geburt einfach zu. Es geht nicht so sehr ums LOSlassen als ums ZUlassen. Andere finden das fürchterlich (ich gehöre übrigens auch dazu ;-)) und entweder sie wehren sich mit Händen und Füßen oder sie werden schlicht davon überrollt! Das Leben lässt sich nicht aufhalten.

Mach dir bewusst: Dieser Punkt, wenn man spürt, da ist eine Grenze, ist immer eine Ausnahmessituation. Man weiß ja nicht genau, was geschieht, wenn man über diese Grenze geht. Daher ist es so wichtig, dass du weißt, dass du da ein Wörtchen mitreden kannst. Dein Körper macht schon, was er kann und soll, aber du darfst das Tempo (!) mitbestimmen. Eines sei dir aber gesagt: Wenn man sich seiner Grenze und deren Ausweitung bewusst ist, kann man zwar schlechter „überrollt werden“. Dafür ist dann aber der Prozess des Zulassens und Ausweitens ebenso bewusster und eventuell mit mehr Zeit- oder Kraftaufwand verbunden.

Manche Frauen, insbesondere in einem Klinik-Set-Up, bekommen in diesen Grenzsituationen oft “Hilfe” in Form von Schmerz- oder Entspannungsmedikation angeboten. Natürlich schaltet diese “Hilfe” aber auch die tatsächliche Geburtskraft aus, die diese Frauen im Grunde hätten. Sie wird auf ein “erträgliches” Maß gedrosselt. Wenn dir das jetzt übel aufstößt, dass ich das so schreibe: Bitte fühle dich nicht bewertet dafür, vielleicht so gewählt zu haben. Es macht die Geburt nicht besser oder schlechter. Vielmehr möchte ich damit deine Großartigkeit unterstreichen, die du vielleicht unterschätzt (hast) und dich einladen, dir bei einer vielleicht folgenden Geburt deiner körperlichen Kraft bewusster zu werden.

Enjoy your birth!
Jasmin

PS: Auf dem Foto seht ihr mich während der Geburt meiner Tochter, als mir bewusst war, dass ich es jetzt dann einfach die Intensität der Geburt zulassen muss, wie stark sie auch sein wird, damit sie geboren werden kann.